
Ich habe von diesem Tag im Oktober mittlerweile eine ziemlich genaue Vorstellung. Zusammengeschustert aus Informationen, die auf Nachfrage jedes Jahr von meiner Mutter wieder erzählt werden. Ein schöner, klarer aber lausekalter Herbsttag. Sie trug ein graues Tweedkostüm. Ich stelle mir einen zarten, eleganten Stoff vor (Das Gegenteil von Tweed, quasi). Ein kurzer Rock - schließlich schreiben wir das Jahr 1968 - und sie war schlank (ist sie immer noch) und zart (ist sie auch noch) und schön (ist sie sowieso). Sie hat Rebhühner gebraten. Ich sehe sie in der Küche stehen und ihre langen Haare fallen in ihr Gesicht und über Ihre Schultern. In meinem Bild ist sie sogar sehr schlank. Was absurd ist. Denn der Tag, den wir hier sehen, ist der Tag meiner Geburt. Ich weiß nicht, ob die Rebhühner gegessen wurden. Ich weiß, dass Professor Kirchhoff dann noch gesagt hat, dass das noch dauert und ich ein Sonntagskind werde und er wieder nach Hause fährt. Und er, Zuhause angekommen, den Mantel gar nicht mehr auszuziehen brauchte.
Und dann kamen die Geburtstage, an die ich mich alleine erinnern kann. Geprägt, von zwei besonders starken
Sinneseindrücken. Geruch: Apfelkuchen "sehr fein" aus dem großen Doktor Oetker Kochbuch. Klang: Vivaldis Vier Jahreszeiten: Der Herbst. Bei meiner Schwester: Winter. Bei meinem Bruder: Herbst. Bei meiner Mutter: Winter. Ich bin mir nicht sicher, ob die anderen beiden Jahreszeiten bei uns überhaupt jemals zu Abspielung kamen? In den Jahren, in denen ich in anderen Städten gelebt habe, hat meine Mutter mir den Herbst manchmal durch das Telefon vorgespielt. Oder ich habe es mir tapfer selbst vorgespielt. Da hat mir dann das Heimweh das Herz zerrissen.
In den letzten Jahren sind oft viele Tränen geflossen, an diesem Tag. Weil ich nicht verstanden habe, warum mir diese Rituale nicht weiter geschenkt werden. Ich nicht bereit war, anderen Ritualen eine Chance zu geben.
Dieses Jahr wird alles anders. Weil auch alles anders gekommen ist. Ich breche meine Regeln und lade Leute ein und feiere meinen Geburtstag. Ich werde Gorilla Bisquits und ABBA und Jaque Brell hören. Schokoladentarte backen und Champagner trinken. Ich werde bestimmt weinen weil alles so anders geworden ist als ich es mir vorgestellt habe. Und weil ich ergriffen sein werde, weil Menschen meiner Einladung gefolgt sind und wegen mir da sind.
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